Münchner*innen in der Fremde – Eine Annäherung in Texten (Folge 3) – Arosa 1933

„Geschichten aus dem Stadtarchiv“ war ein neuer Programmpunkt zum diesjährigen Tag der Archive am 2. März 2024. Hierbei handelte es sich um eine Lesung aus archivalischen Quellen, die als gemeinsamen roten Faden das Thema „Münchner*innen in der Fremde“ in sich trugen. Als Zeitrahmen wurde das 20. Jahrhundert gewählt.

Für einen Aufenthalt in der Fremde gibt es viele Gründe. Es kann eine Urlaubsreise sein, es können berufliche Gründe vorliegen, Abenteuerlust ist ein möglicher Grund, es kann aber auch politische Gründe dafür geben, die Heimatstadt verlassen zu müssen. All diese Facetten sollten in den vier ausgewählten Texten beleuchtet werden. Hierbei handelte es sich um Briefe, Erinnerungen und Berichte von drei Münchnern und einer Münchnerin, die in chronologischer Abfolge vorgestellt werden. Vor der Lesung der Texte erfolgte am Tag der Archive durch den Autor dieses Beitrags eine kurze Hinführung zum sachlichen und historischen Kontext der Quelle sowie zum biografischen Hintergrund der Verfasser*innen bis zur Abfassung des Textes bzw. bis zum Eintritt der darin geschilderten Ereignisse. Abgeschlossen wurde jede Lesung mit Informationen zum weiteren Lebensweg der Verfasser*innen.1

Text 3: Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Thomas Mann (1875-1955) und dem Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl (1881-1963), März 1933.

a) Schreiben Thomas Mann an Karl Scharnagl, Arosa (Schweiz), 6. März 1933, Maschinenschrift (Original).

b) Antwortschreiben Karl Scharnagl an Thomas Mann, München, 9. März 1933, Maschinenschrift (Durchschrift des Originals).

Der Briefwechsel ist in den Handakten Karl Scharnagls überliefert, die im Stadtarchiv im Aktenbestand „Bürgermeister und Rat“ vorliegen (DE-1992-BUR-1879).

Zeitgeschichtlicher Kontext

Thomas Mann hatte aus seiner Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten schon Jahre vor 1933 kein Hehl gemacht. Am 10. Februar 1933 hielt er zum 50. Todestag Richard Wagners in der Universität München einen Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“. Am Tag danach trat er eine Vortragsreise an, die ihn und seine Frau nach Amsterdam, Brüssel und Paris führte.2 Im anschließenden Urlaub in Arosa erfuhr Thomas Mann von Verhaftungen und Übergriffen in Deutschland, die ihn veranlassten, vorerst in der Schweiz zu bleiben. Mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und den darauffolgenden Verordnungen waren inzwischen Grundrechte außer Kraft gesetzt worden. Deutschland befand sich auf dem Weg in eine totalitäre Diktatur unter dem Reichskanzler Adolf Hitler. Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 fand bereits unter erheblichen Einschüchterungen und Gewaltausbrüchen der Nationalsozialisten gegen ihre politischen Gegner statt.

Am 6. März 1933 schreibt Thomas Mann aus Arosa einen Brief an den Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl, in dem er ihn um eine Einschätzung der politischen Lage bittet und um Auskunft in der für ihn existenziellen Frage, „ob Sie meinen und der Meinen Aufenthalt in München auch in Zukunft für ungefährdet halten oder nicht“. Der Brief geht am 8. März im Büro des Oberbürgermeisters ein.

Karl Scharnagl war 1919 als Vertreter der Bayerischen Volkspartei in den Münchner Stadtrat gewählt worden und hatte seit dem 1. Januar 1925 das Amt des 1. Bürgermeisters inne (seit 1927 mit dem Titel Oberbürgermeister).3 In Bayern und München hatte nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 der Druck der Nationalsozialisten auf die bayerische Regierung zugenommen, unterstützt durch Übergriffe der SA auch in München. Am 9. März hissten die Nationalsozialisten die Hakenkreuzfahne auf dem Münchner Rathaus. In den Mittagsstunden ernannte Reichsinnenminister Wilhelm Frick den NSDAP-Reichstagsabgeordneten Franz von Epp zum Reichskommissar in Bayern. Ihm wurde so die vollziehende Gewalt übertragen. Das bayerische Kabinett unter Ministerpräsident Heinrich Held (BVP) wurde nun von den Nationalsozialisten systematisch aus dem Amt gedrängt.4

Unter dem Eindruck der dramatischen und für die Zukunft Scharnagls als gewählter Oberbürgermeister bedrängenden Ereignisse antwortet Karl Scharnagl am 9. März 1933 Thomas Mann. Scharnagl äußert sich darin vorsichtig über das Ausmaß der bevorstehenden politischen Veränderungen, gibt jedoch seiner Überzeugung Ausdruck, dass man sich der Auswirkung der Wahl „nicht entziehen kann, will man nicht schlimme Folgen heraufbeschwören. Es wird also zweifellos die Führung der bayerischen Politik augenblicklich in andere Hände übergehen müssen.“ Ob es gelingt, die „radikaleren Strömungen“ der neuen Bewegung auszuschalten, sei – nach Scharnagl – „noch nicht abzusehen“. Er schließt mit den Worten: „Sollte sich in einigen Wochen ein besserer Überblick ergeben, so bin ich gerne bereit, wenn Sie das wünschen, nochmals meine Auffassung darzulegen.“

Antwortschreiben Karl Scharnagl an Thomas Mann, München, 9. März 1933 Maschinenschrift (Durchschrift des Originals).
Antwortschreiben Karl Scharnagl an Thomas Mann, München, 9. März 1933
Maschinenschrift (Durchschrift des Originals). DE-1992-BUR-1879
Link zum kompletten Brief

Weitere Lebensläufe von Thomas Mann und Karl Scharnagl

Thomas Mann kehrte nicht nach München zurück. Insbesondere seine Kinder bedrängten ihn, es nicht zu tun. Am 26. April 1933 fand in seinem Wohnhaus in der Poschingerstraße eine Hausdurchsuchung statt, wenig später wurde von den Nationalsozialisten ein Schutzhaftbefehl gegen ihn erwirkt. Nach einigen Monaten in Sanary-sur-Mer in Südfrankreich, wo die Familie wieder zusammenkam, lebten Thomas und Katia und die jüngeren Kinder ab Herbst 1933 bis Ende 1938 in Küsnacht bei Zürich. Aus dem Schweizer Exil heraus brach Thomas Mann 1936 dann unmissverständlich mit dem NS-Regime. Er wurde aus seinem Heimatland ausgebürgert und nahm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an.

Im Jahr 1938 emigrierten Thomas und Katia Mann weiter in die Vereinigten Staaten und behielten hier ihren Lebensmittelpunkt bis 1952. Dann verließ das Ehepaar Mann die USA und kehrte nach Europa zurück. Bewusst entschied man sich nicht für einen der beiden deutschen Staaten, sondern für die Schweiz. Wiederum vor den Toren Zürichs, diesmal in Erlenbach und Kilchberg, fand Thomas Mann mit seiner Familie eine Bleibe. Thomas Mann starb dort im Jahr 1955.5

Karl Scharnagl erklärte am 20. März 1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten seinen Rücktritt als Oberbürgermeister und kehrte in seinen erlernten Beruf als Bäcker zurück. Scharnagl stand mit dem bayerisch-bürgerlichen Widerstandskreis um Franz Sperr und Eduard Hamm in Kontakt und fungierte zeitweise als Verbindungsmann der Gruppe zum Widerstandszentrum in Berlin um Carl Friedrich Goerdeler. Obwohl er an den Vorbereitungen des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 nicht beteiligt war, wurde Scharnagl daraufhin verhaftet und im KZ Dachau interniert. Nach der Befreiung des Lagers setzte die US-Armee Karl Scharnagl am 4. Mai 1945 wieder als Oberbürgermeister von München ein. In den ersten Kommunalwahlen im Mai 1946 bestätigt (nun als Kandidat der CSU), blieb er bis zu den Kommunalwahlen im Frühjahr 1948 im Amt. Danach war er noch ein Jahr als 2. Bürgermeister unter Oberbürgermeister Thomas Wimmer (SPD) tätig. Am 6. April 1963 starb er in München.6 Sein Grab befindet sich im Münchner Ostfriedhof.


  1. Bei der Veranstaltung wurden die Quellentexte von Frau Rebekka Ziemer, Studierende an der Theaterakademie August Everding, vorgetragen. ↩︎
  2. Vgl. Wikipedia <Abgerufen am 14.12.2024> ↩︎
  3. Thomas Schlemmer, Scharnagl, Karl, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 22, Berlin 2005, S. 573 f <Abgerufen am 14.12.2024> ↩︎
  4. Bernhard Grau, Steigbügelhalter des NS-Staates – Franz Xaver Ritter von Epp und die Zeit des Dritten Reiches, in: Marita Krauss (Hg.), Rechte Karrieren in München. Von der Weimarer Zeit bis in die Nachkriegsjahre, München 2010, S. 29–51. ↩︎
  5. Peter Czoik, Thomas Mann, in: Literaturportal Bayern <Abgerufen am 14.12.2024>
    Dort auch Literaturhinweise. ↩︎
  6. Schlemmer (wie Anm. 3) ↩︎

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert