„Geschichten aus dem Stadtarchiv“ war ein neuer Programmpunkt zum diesjährigen Tag der Archive am 2. März 2024. Hierbei handelte es sich um eine Lesung aus archivalischen Quellen, die als gemeinsamen roten Faden das Thema „Münchner*innen in der Fremde“ in sich trugen. Als Zeitrahmen wurde das 20. Jahrhundert gewählt.
Für einen Aufenthalt in der Fremde gibt es viele Gründe. Es kann eine Urlaubsreise sein, es kann berufliche Gründe haben, es kann Abenteuerlust sein, es können aber auch politische Gründe den Anlass geben, die Heimatstadt verlassen zu müssen. All diese Facetten sollten in den vier ausgewählten Texten beleuchtet werden. Hierbei handelte es sich um Briefe, Erinnerungen und Berichte von drei Münchnern und einer Münchnerin, die in chronologischer Abfolge vorgestellt werden. Vor der Lesung der Texte erfolgte am Tag der Archive durch den Autor dieses Beitrags eine kurze Hinführung zum sachlichen und historischen Kontext der Quelle sowie zum biografischen Hintergrund der Verfasser*innen bis zur Abfassung des Textes bzw. bis zum Eintritt der darin geschilderten Ereignisse. Abgeschlossen wurde jede Lesung mit Informationen zum weiteren Lebensweg der Verfasser*innen.1
Folge 2: Bericht der Bildhauerin Ilse von Twardowski-Conrat über eine Reise zu der Felsenstadt Petra im heutigen Jordanien im Frühjahr 1914. Handschriftliches Manuskript. o. J. [1937-1942], Maschinenschriftliche Abschrift der Tochter Elisabeth Kahmann, München, o.J. [um 1980] (DE-1992-NL-TWA-08).2
Kurzbiografie Ilse von Twardowski-Conrat
Die Bildhauerin Ilse von Twardowski-Conrat wurde 1880 in Wien als Tochter des jüdischen Kaufmanns Hugo Conrat (1845-1906) und seiner Ehefrau Ida (1857-1938) geboren. Ihr Vater konvertierte 1882 mit seiner Familie zum evangelischen Glauben und änderte seinen Namen von Cohn nach Conrat. Er war Kaufmann und Musikliebhaber und mit vielen Künstlern seiner Zeit bekannt. Das Elternhaus war ein Künstlertreffpunkt.3
Die Tochter Ilse erhielt künstlerischen Privatunterricht. Unter der Anleitung des Wiener Bildhauers Josef Breitner entstanden ihre ersten Versuche in der Plastik. Als Modell für ihre ersten plastischen Arbeiten diente der deutsche Komponist Johannes Brahms, der einen engen Kontakt mit ihrer Familie pflegte. Aus diesem Grund wurde ihr später der Auftrag für das Brahmsdenkmal am Wiener Zentralfriedhof übertragen, das sie im Jahr 1903 anfertigte.4 Im Jahr 1898 bewarb sie sich für eine Ausbildung beim Bildhauer Charles van der Stappen in Belgien, der ihr Mentor und Freund wurde. 1901 ging sie wieder zurück nach Wien. Im selben Jahr nahm sie an der 8. Internationalen Kunstausstellung in München teil, wo sie zum ersten Mal öffentliche Anerkennung erlangte.
Kurz darauf kam ihr Werk an die Wiener Secession, wo es ebenfalls große Bewunderung erzeugte. Es folgten viele Aufträge für Porträtbüsten und Grabmäler. Sie hatte ihr eigenes Atelier und unternahm Studienreisen nach London, Paris, Brüssel und Rom. Am 27. Mai 1910 heiratete sie in London den dreißig Jahre älteren Generalmajor August Dobrogast Ernst von Twardowski, der ihr viel Freiraum für ihre Arbeit ließ. Im selben Jahr wurde sie als Vizepräsidentin des neu gegründeten Vereins „Bildender Künstlerinnen Österreichs“ berufen. Dieses Amt legte sie jedoch bald wieder nieder und verbrachte die nächsten vier Jahre mit ihrem Mann in Rom.5
Bis 1914 bereiste Ilse von Twardowski-Conrat mit ihrem Ehemann den Orient und Europa. Im Frühjahr 1914 unternahmen beide eine Reise in den Nahen Osten. Die Reise entsprang einer heiteren geselligen Runde mit dem österreichischen Generalkonsul in Rom, der die Tischrunde aufgefordert hatte, ihn an seiner nächsten Dienststelle zu besuchen.
Der Generalkonsul wurde wenig Monate später nach Beirut versetzt. So reisten Ernst von Twardowski und seine Ehefrau im März 1914 per Schiff von Rom nach Beirut und von dort weiter nach Damaskus. Während Ernst von Twardowski sich die Strapazen nicht zumuten wollte und in Damaskus blieb, unternahm Ilse von Twardowski-Conrat mit einer Reisegesellschaft eine Expedition per Bahn und dann zu Pferd durch die Wüste nach Petra.
Der Bericht darüber wurde von ihr über 20 Jahre später – wohl zwischen 1937 und 1942 – für die Tochter Elisabeth, genannt Ivo, per Hand niedergeschrieben. Ivo Kahmann6 hat den Bericht wie auch weitere Erinnerungen der Mutter Jahrzehnte später in Maschinenschrift übertragen (vgl. Bemerkung am Ende des Berichts).
Abbildungen des vollständigen Berichts
Weiterer Lebenslauf von Ilse von Twardowski-Conrat
Anfang Oktober 1914 zog die Künstlerin mit ihrem Ehemann von Rom nach München. Den ersten Aufenthalt nahmen sie in der Pension Finckh in der Barerstraße 38, die von dem pensionierten Major Alexander von Melgunoff geführt wurde. Bei ihm handelt es sich um eine interessante Person der Zeitgeschichte, dessen Beziehung zu den Twardowskis eine eigene Betrachtung wert wäre. Alexander von Melgunoff wurde am 19. Oktober 1863 in Paris geboren, diente in der Armee des Großherzogtums Baden und führte den Titel eines preußischen Majors a.D. Er zog im Juni 1907 mit seiner Familie nach München und ist seit September 1909 als Inhaber der Pension Finckh in der Barerstraße 38 geführt.7
In der Literaturgeschichte berühmt ist seine Mutter Sophie von Melgunoff (Melgunow) (1820-1898), die einst in enger Beziehung zu Theodor Fontane stand. Der Sohn Alexander gab 1898 eine Sammlung wehmütig sentimentaler Dichtungen seiner Mutter heraus.8 Die Bekanntschaft oder Freundschaft zwischen Melgunoff und Ernst von Twardowski reichte offenbar weiter zurück, hatte sich doch Ernst von Twardowski bereits bei seinem München Aufenthalt im Jahr 1908 für drei Wochen in der Pension Finckh aufgehalten.
Der Umzug nach München bedeutete für Ilse von Twardowski jedoch nicht dauerhafte Sesshaftigkeit: In den Jahren nach 1914 waren die Aufenthalte der Twardowskis immer wieder unterbrochen von kürzeren und längeren Reisen innerhalb Deutschlands und von Sommeraufenthalten in den bayerischen Bergen.9 Die Werke von Ilse von Twardowski-Conrat waren zwischen 1918 und 1934 auf vielen Ausstellungen in München, Berlin, Hamburg, London und Paris zu sehen. Im Jahr 1921 erhielt das Ehepaar mit dem Kind Elisabeth, genannt „Ivo“ (* 15.06.1920 München, + 6.08.2001 München) die bayerische Staatsangehörigkeit verliehen. Ernst von Twardowski starb am 12. Januar 1928 in München.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die künstlerischen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten Ilse von Twardowski-Conrats in zunehmendem Maße eingeengt. Mit Einschreiben vom 4. April 1935 untersagte ihr der Präsident der Reichskammer der bildenden Künste Eugen Hönig „die weitere Berufsausübung als Maler und Graphiker“. Die Aufnahme in die Reichskammer der bildenden Künste wurde abgelehnt.10
Sie flüchtete sich in die innere Emigration, zerstörte zahlreiche Arbeiten und zog im Dezember 1935 nach München-Waldtrudering in die Waldschulstraße 42. Als sie im Juli 1942 die Aufforderung zur Deportation erhielt, beging sie am 9. August 1942 Selbstmord. Das Grab befindet sich auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München.11
- Bei der Veranstaltung wurden die Quellentexte von Frau Rebekka Ziemer, Studierende an der Theaterakademie August Everding, vorgetragen. ↩︎
- Kopien der Originalvorlage wie auch der maschinenschriftlichen Abschrift befinden sich mit anderen – ebenfalls in Kopie und maschinenschriftlicher Abschrift überlieferten – Erinnerungen Ilse von Twardowski-Conrats im Nachlass unter der Signatur: DE-1992-TWA-65. Eine Kopie der maschinenschriftlichen Abschrift der Erinnerungen befindet sich auch in der Judaica-Sammlung des Stadtarchivs (DE-1992-JUD-V-011). Der Aufbewahrungsort der Originalhandschrift von Ilse von Twardowski-Conrat ist nicht bekannt. ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ilse_von_Twardowski-Conrat <Aufgerufen am 28.06.2024> ↩︎
- https://fraueninbewegung.onb.ac.at/node/2667<Aufgerufen am 28.06.2024> ↩︎
- https://monuments.univie.ac.at/index.php?title=Ilse_Twardowski-Conrat <Aufgerufen am 28.06.2024> ↩︎
- Elisabeth von Twardowski ehelichte im Jahr 1946 den Zoologen und Naturwissenschaftler Hermann Kahmann (1906-1990);
vgl. https://www.zobodat.at/biografien/Kahmann_Herman_Spixiana_014_0113-0120.pdf <Aufgerufen am 8.07.2024> ↩︎ - Im Jahr 1919 meldete sich das Ehepaar von Melgunoff nach Lüneburg ab; DE-1992-PMB-M-187. Vorbesitzer der Pension waren der ehemalige Gutsbesitzer Julius Finckh (1840-1899) und dessen Ehefrau Sofie, geb. Voit (1849-1912); DE-1992-PMB-F-114. ↩︎
- Klaus-Peter Möller: »Drachenmilch. Emilie Kummer als Verlobte und ihre Eifersucht auf Sophie von Melgunow«, Blog »Objekt des Monats«, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv. Potsdam 2021ff. www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2024/03/5/drachenmilch. Veröffentlicht am: 05.03.2024. <Aufgerufen am 8.07.2024> ↩︎
- Polizeiliche Meldebögen Ernst von Twardowski und Ilse von Twardowski-Conrat; DE-1992-PMB-D-245. ↩︎
- DE-1992-NL-TWA-30. ↩︎
- https://stadtgeschichte-muenchen.de/friedhof/d_grab.php?id=3050 <Aufgerufen am 8.07.2024> ↩︎