Auf der Suche nach den „Munich Roots“

English version below!

Vom 4. bis 8. November 2024 besuchten die Nachfahr*innen von acht jüdischen Münchner Familien, die im Jahr 1939 zwangsweise ihre Gold- und Silberobjekte an das Städtische Leihamt abliefern mussten, die Landeshauptstadt. Einen Nachmittag verbrachten die heute über die ganze Welt verstreuten Nachkommen im Stadtarchiv, um Einblicke in die Lebensgeschichten und Schicksale ihrer Vorfahren zu erhalten.

Hintergrund des Besuchsprogramms bildete die Restitution von Wert- und Kunstgegenständen aus dem Besitz des Stadtmuseums an die Nachfahr*innen und Erb*innen der Münchner jüdischen Familien, denen sie im Jahr 1939 durch eine Zwangsmaßnahme der Nationalsozialisten entzogen worden waren. Das geschah damals auf der Basis der am 21. Februar 1939 erlassenen „Dritten Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“. Bei dieser bürokratisch verbrämten Anordnung handelte es sich um eine weitere Willkürmaßnahme, mit der die Vernichtung der wirtschaftlichen und bürgerlichen Existenz der deutschen Juden noch weiter vorangetrieben wurde. Über 2.000 jüdische Münchner*innen mussten daraufhin innerhalb von zwei Wochen ihre Wertgegenstände beim Städtischen Leihamt in der Augustenstraße 20 zwangsweise abliefern.

Zwangsverkauf von Wertgegenständen jüdischer Bürger*innen

Dieses Verfahren lief beim Städtischen Leihamt zwar unter der Bezeichnung „Ankauf“ ab, aber die Entschädigung für die abgelieferten Wertgegenstände belief sich nur auf einen Bruchteil des tatsächlichen materiellen Wertes. Aus diesem Fundus wiederum veräußerte das Leihamt die wertvollen Stücke mit einer hohen Gewinnmarge an private Aufkäufer, Kunsthändler und öffentliche Museen. Die weniger wertvoll eingeschätzten Stücke wurden eingeschmolzen. Der finanzielle Ertrag daraus ging an das Deutsche Reich.

Restitution von Objekten an die Nachkommen

Auch das Stadtmuseum kaufte in den Jahren 1939 und 1940 vom Leihamt über 200 Objekte zu billigsten Preisen für die eigene Sammlung. In jahrelangen zeitaufwändigen Recherchen ist es dem Stadtmuseum nun gelungen, einen Großteil der Objekte den ehemaligen Besitzer*innen zuzuordnen. So konnten jetzt fast alle 145 Objekte aus der „Silberzwangsabgabe“ einem Familiennamen zugeordnet werden. Ein bedeutsamer Teil der Quellen für die Zuordnung der Namen befindet sich im Stadtarchiv, das die Akten des Städtischen Leihamtes bei der Auflösung der Einrichtung im Jahr 1992 und in den Jahren danach nahezu vollständig übernehmen konnte. Damit war es nun möglich, die Ankaufsverzeichnisnummern des Leihamtes, die sogenannten AV-Nummern, den Personen zuzuordnen, welche die Wertgegenstände abgegeben hatten.

So konnte eine umfangreiche Restitution an die Nachkommen der jüdischen Münchner*innen in Gang gesetzt werden, die heute über die ganze Welt verstreut leben.[1] Viele Nachkommen wussten kaum oder nur wenig über das Leben ihrer Vorfahr*innen in München und es entstand die Idee, diesen Münchner Wurzeln in München bei einem Besuch nachzuspüren. So trafen sich nun in der ersten Novemberwoche insgesamt 18 Nachkommen von acht jüdischen Familien in München.

Dr. Regina Prinz, Leiterin des Bereichs Provenienzforschung am Münchner Stadtmuseum, hatte für die Besuchergruppe ein Programm zusammengestellt, das unter dem Motto „Munich Roots“ insgesamt elf Kooperationspartner*innen zusammen gestalteten. Am 6. November kamen die Gäste aus Argentinien, Israel, Italien, Großbritannien, den Niederlanden, den USA und Deutschland für einen Nachmittag auch in das Stadtarchiv.

Wie man Unterlagen zur eigenen Familie findet

Der Besuch im Stadtarchiv stand unter dem Thema „How to find your family resources“. Nach einer kurzen Einführung in die Quellenbestände und die Aufgaben des Stadtarchivs gab Anton Löffelmeier, Leiter der Abteilung 1 des Stadtarchivs, einen Überblick über die Quellen zur Personen- und Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich befanden sich die meisten Nachkommen das erste Mal in München, um dem Leben ihrer Vorfahren nachzuspüren. Nur wenigen war dabei die Flucht vor den Nazis ins Ausland geglückt, viele mussten sich ab November 1941 den Deportationen nach Osten anschließen, wurden in den Vernichtungslagern umgebracht oder kamen durch Erschießungskommandos um.

Gelang ihnen die Flucht oder die Ausreise, konnten in der Regel nur wenige Dokumente und Fotos mitgenommen werden, so dass für die Nachkommen die Lebensgeschichten davor oftmals im Dunkeln blieben. Manche Überlebende konnten und wollten ihren Kindern und Enkeln auch nicht über ihr Leben in München berichten, das sie unter Zwang oder unter Lebensgefahr verlassen hatten. So war Werner Guggenheim, der Geschäftsbeziehungen in das Ausland hatte, 1935 die Ausreise nach Italien gelungen. Er heiratete zwei Jahre später in Ancona, erzählte aber seiner Familie niemals über sein Leben in München. Eine Enkelin aus Italien sah in München nun erstmals Fotos ihres Großvaters aus der Zeit vor 1935 und auch ihres Urgroßvaters Josef Guggenheim.

Anhand von Meldebögen, standesamtlichen Unterlagen und Akten des Gewerbeamtes im Stadtarchiv konnten die Nachkommen die bürgerliche Existenz ihrer Großeltern und Urgroßeltern nachvollziehen. Mit zahlreichen Quellen lassen sich aber auch die Verfolgungsmaßnahmen und Ausgrenzungsmaßnahmen der Nationalsozialisten belegen. So galt für Juden ab Juli 1938 eine Kennkartenpflicht.

Ab Oktober 1938 mussten jüdische Reisepässe mit einem sogenannten Judenstempel in Form eines „J“ versehen sein. Zu manchen Münchner Jüd*innen, die von der „Silberzwangsabgabe“ betroffen waren, sind im Stadtarchiv sogenannte Kennkarten-Doppel vorhanden. Darin finden sich neben einem Porträtfoto die ebenfalls ab 1939 zwangsweise eingeführten zusätzlichen deklassierenden Vornamen (in München meist „Israel“ und „Sara“) und der sogenannte Judenstempel vorgetragen. Über Akten des städtischen Gewerbeamtes kann die ab Frühjahr 1938 rigoros betriebene Ausschaltung der Juden aus dem Münchner Geschäftsleben belegt werden. Die umfangreichen Akten zu Josef Guggenheim[2] und Hugo Brandeis[3] zeigen den massiven obrigkeitlichen Druck, mit dem die Münchner Juden ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt wurden.

Auf der Spur der eigenen Wurzeln

Das Blättern in den Dokumenten war für viele Gäste ein bewegender Moment. Kolleg*innen aus dem Stadtmuseum und dem Stadtarchiv gaben dabei Lesehilfe und halfen beim Erläutern und Verstehen der Dokumente. Einige der Nachkommen hatten Dokumente aus Familienbesitz mitgebracht, die mit Hilfe der anwesenden Archivar*innen und Historiker*innen gelesen, übersetzt und in die jeweiligen Biografien eingeordnet werden konnten. Großes Interesse hatten alle Gäste an Möglichkeiten der Recherche in den Datenbanken des Stadtarchivs. Der Infopoint von Stadtarchivmitarbeiterin Angela Stilwell war den ganzen Nachmittag dicht belagert.

Unter einem lebhaften Austausch und nach intensiven Gesprächen, die auch in der Kaffeepause fortgeführt wurden, endete nach über drei Stunden eine bewegende Veranstaltung im Stadtarchiv.

Der Bayerische Rundfunk hat den Nachmittag im Stadtarchiv wie auch weitere Stationen des Besuchsprogramms filmisch und mit Interviews begleitet.


From November 4 to 8, the descendants of eight Jewish Munich families that were forced to hand over their gold and silver objects to the Municipal Pawn Shop in 1939 visited the capital of Bavaria. The descendants, who are now living all over the world, spent an afternoon in the Munich City Archives to gain insights into the life stories and fates of their ancestors.

The reason for the visit was the restitution of valuable objects and works of art owned by the City Museum to the descendants and heirs of Munich Jewish families from whom they had been seized in 1939 by a coercive measure of the National Socialists. This was done on the basis of the “Third Order on the Basis of the Decree on the Registration of Jewish Property” (“Dritte Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“) issued on February 21, 1939. This bureaucratically veiled order was another arbitrary measure that further advanced the destruction of the economic and civic existence of German Jews. Over 2,000 Jewish residents of Munich were then forced to hand over their valuables to the Municipal Pawn Shop at Augustenstraße 20 within two weeks. Although this procedure was carried out under the name “purchase”, the compensation for the valuables handed in was only a fraction of the actual value. The Pawn Shop sold the valuable pieces from this collection to private buyers, art traders and public museums at a high profit margin. The less valuable pieces were melted down. The financial proceeds from this went to the German Reich.

In 1939 and 1940, the City Museum also bought over 200 objects from the Loan Office at the cheapest prices for its own collection. After years of time-consuming research, the City Museum has now succeeded in assigning most of the objects to their former owners. Almost all 145 objects from the so called “compulsory silver levy” (“Silberzwangsabgabe”) have now been assigned to a family name. A significant part of the sources for assigning the names can be found in the City Archives, which was able to take over almost all of the files of the Municipal Pawn Shop after the institution was dissolved in 1992. This meant that it was now possible to allocate the purchase register numbers of the Pawn Shop, the so-called “AV numbers”, to the persons who had handed in the valuables.

In this way, extensive restitution could be initiated for the descendants of Jewish Munich residents who are now living all over the world. Many descendants knew little or nothing about the lives of their ancestors in Munich, so the idea was born to trace these roots. As a result, a total of 18 descendants of eight Jewish families met in Munich in the first week of November.

Our colleague Dr. Regina Prinz, Head of Provenance Research at the Munich City Museum, put together an agenda for the group of visitors including a total of eleven cooperation partners under the motto “Munich Roots”. On November 6, the guests from Argentina, Israel, Italy, Great Britain, the Netherlands, the USA and Germany came to the City Archives for an afternoon.

The topic of the visit there was “How to find your family resources”. After a brief introduction to the source inventory and the tasks of the City Archives, Anton Löffelmeier, Head of Department 1 of the City Archives, gave an overview of the sources on personal and family history in the 20th century. Most of the descendants were in Munich for the first time to trace the lives of their ancestors. Only a few of their ancestors managed to escape the Nazis abroad, many had to join the deportations to the East from November 1941, were killed in the extermination camps or perished by firing squads.

If they managed to escape or leave the country, they were usually only able to take a few documents and photos with them, meaning that their life stories often remained in the shadows for their descendants. Some survivors could and did not want to tell their children and grandchildren about their lives in Munich, which they had left under duress or at the risk of their lives. Werner Guggenheim, for example, who had business connections abroad, managed to emigrate to Italy in 1935. He married two years later in Ancona, but never told his family about his life in Munich. A granddaughter from Italy now saw photos of her grandfather from before 1935 and also of her great-grandfather Josef Guggenheim for the first time.

Using registration forms, registry office documents and files from the trade office in the City Archives, the descendants were able to comprehend the middle-class existence of their grandparents and great-grandparents. However, numerous sources also provide evidence of the persecution and exclusion measures of the National Socialists. From July 1938, for example, Jews were required to have an identity card. From October 1938, Jewish passports had to have a so-called “Jewish stamp” (“Judenstempel”) in the shape of a “J”. Some Munich Jews who were affected by the “compulsory silver levy” have identification card duplicates in the city archives. In addition to a portrait photo and the Jewish stamp, these contain the added declassifying first names (in Munich mostly “Israel” and “Sara”), which were also forcibly introduced from 1939. Files from the Municipal Trade Office provide evidence of the rigorous elimination of Jews from Munich’s business life from spring 1938 onwards. The extensive files on Josef Guggenheim and Hugo Brandeis show the massive pressure exerted by the authorities to deprive Munich’s Jews of their economic existence.

Browsing through the documents was a moving moment for many guests. Colleagues from the City Museum and the City Archives provided reading assistance and helped to explain and understand the documents. Some of the descendants brought documents from family property, which could be read, translated and classified in the respective biographies with the help of the archivists and historians. All guests were very interested in researching the City Archive’s databases. Our colleagues Angela Stilwell’s information desk was busy all afternoon.

With a lively exchange and intensive discussions, that also continued during the coffee break, the moving event in the City Archives came to an end after more than three hours. Bayerischer Rundfunk covered the afternoon as well as other stations of the visit on film and with interviews.


[1] Vgl. hierzu: https://www.muenchner-stadtmuseum.de/sammlungen/provenienz/silber

[2] DE-1992-GEW-ARI-055.

[3] DE-1992-GEW-ARI-023.